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Wirklichkeiten – Geschichten

Wirklichkeiten sind Konstruktionen

Im Bhutan des 15. Jahrhunderts soll es einen Herrn namens Drukpa Kunley (Wikipedia: Drugpa Künleg) gegeben haben, der fünftausend Damen mit seinem großen Phallus beglückte und mit diesem Teil auch Feinde erschlug, so sagt man. Er zog durch die Lande des südlichen Himalaya und interpretierte den Buddhismus auf seine Weise. Heute ist ihm ein Tempel nahe Phunakha gewidmet. Dort kann sich jeder Besucher mit einem hölzernen Penis segnen lassen, die leichte Penisberührung auf der Stirn wird ehrfürchtig dankend angenommen.

Göttlich? Wahnsinn?

Manche nennen diesen Casanova-Vorgänger einen „divine madman“. Göttlich und wahnsinnig? Diese Frage führt mit ihrem analytischen Ansatz auf eine falsche Fährte. Wir nutzen Worte und unterstellen gern, daß deren Bedeutung eindeutig ist und daß es unzweifelhaft eine Existenz dahinter gibt. Wir nehmen die Sprache wörtlich. Ob es den Drukpa Kunley aber tatsächlich gegeben hat, ob die kreativen Hinzufügungen wahr sind und ob die Penissegnung tatsächlich einen praktischen Nutzen hat … all das ist nicht relevant!

Über ein halbes Jahrtausend hat sich aus der Geschichte des Drukpa Kunley, ihrer Fortentwicklung im kulturellem Kontext eine Bildsprache, eine Metaphorik, entwickelt, die von den Menschen in Bhutan heute als Wirklichkeit anerkannt wird. Die Kraft dieser Metapher lässt es zu, dass Hauswände mit dem ejakulierenden Penis bemalt werden, dass man im Haus an definierten Plätzen hölzerne Penisse aufstellt, um eine spirituelle Wirkung zu sichern. Im Tempel ist die Atmosphäre alles andere als schlüpfrig, niemand schmunzelt.

Dieser Penis hat nichts mehr gemein mit dem Körperteil, welches die männliche Fraktion der Bevölkerung in Bhutan üblicherweise in der Hose versteckt. Er ist zum Symbol geworden, zum spirituellen Stellvertreter für eine neue Wirklichkeit. Eine Art Transsubstantiation hat stattgefunden. Das Wirkliche ist das was wirkt, was wahr ist wissen wir nicht. Müssen wir auch nicht.

Sprache macht Wirklichkeit

Wir spüren an diesem Beispiel die Kraft von Bildern und Bildsprache. Mit Metaphern gestalten wir Wirklichkeiten, indem wir Worte in einen neuen Kontext setzen, Bilder und Symbole einsetzen und dann neue Unterscheidungen treffen können … neue Geschichten können entstehen.

Wenn wir nach Bhutan reisen, dann nehmen wir unsere Sprache, Bilder und Geschichten mit. Wir sehen die Hausbemalungen und sind irritiert. Das passt nicht in unseren Kontext, das ist mad, verrückt. Wir stellen uns vor: ein solcher Phallus als Graffiti an der Hauswand von Anneliese Werwolf, einer fiktiven Politikerin in Deutschland!? Die Empörung wäre riesig.

Oder? 

Es kommt drauf an …

Wie wäre es denn, wenn die prominente Anneliese die nächtliche Sprayer-Aktion dazu nutzt, das Graffiti zum Kunstwerk umzudeuten? Sie lädt ihr Netzwerk zu einer Vernissage mit Sekt und Selters ein. Es wird ein Foto gemacht, ein Unikat. Dann wird das Foto zu einer Vielzahl von NFT (Non-Fungible Token) aufbereitet, die in einer Blockchain repräsentiert zum Kauf angeboten werden. Den Erlös spendet Anneliese an die Medizin-Forschung, die sich auf Erektile Dysfunktion spezialisiert. Dann kommt der Maler und löscht das Original.

Die Urheber, die Sprayer also, die Anneliese dieses Graffiti geschenkt hatten, werden sich mächtig ärgern. Aber immerhin können sie ihr Werk ja in digitalen Fraktalen zurückkaufen.

Aushalten!

Alles nur Fantasie? Ich erinnere mich an meine Gymnasialzeit, damals. Da gab es einen Schulleiter, der natürlich erklärter Gegner war, eben weil er Schulleiter war, Establishment. Wir waren gegen alles und für Mao, klammheimliche Baader-Meinhof-Sympathisanten, lange Haare, kurzes Denken. Eines Tages war sein Haus besprüht. Kein Graffiti, leider, einfach nur Geschmiere. Wie hat der Schuleiter reagiert? Er hat das ignoriert! Gibt es schlimmeres für Anarchisten, als ignoriert zu werden? Der Schulleiter konnte sich eines neuen und wertvollen Markenzeichens sicher sein, frei Haus geliefert. Das Haus zählte zu den am häufigsten fotografierten Objekten in der Stadt. Die Gestaltung hat viele Jahre überdauert, ich war schon zum Kapitalismus konvertiert, als die Farbe verblasste.

Wettbewerb der Symbole

Noch ein Beispiel? 2020 hissten Rechtsradikale für wenige Minuten die Reichsflagge vor dem Reichstag. Die öffentliche Reaktion: Hyperventilieren, schnappatmende Entrüstung der Politprominenz. Aber es sind Fotos entstanden, die so schnell nicht wieder vergessen werden. Das durften die Akteure als ihren Erfolg verbuchen! Stolz bei den Fahnenträgern, die Hausherren des Reichstags gedemütigt! Wie konnte das passieren? Die Aktivisten wussten um die Symbolkraft jener Schwarz-weiss-rot-Bildsprache, die Gegner sind darauf hereingefallen.

Wie könnte man diese Geschichte „drehen“? Hier ein Vorschlag: Wir nehmen diese Flagge, das Symbol, dankend an und nutzen es als Initialzündung für die Gestaltung eines Symbolgartens direkt neben dem Reichstag: Auf 1.000 Quadratmetern könnte ein Flanierplatz entstehen, auf dem jederman die Chance hat, für eine bestimmte Zeitdauer (s)ein Symbol zu präsentieren. Über einen QR-Code ist die Geschichte abzugreifen, Hintergründe und Argumentation werden transparent, Ross & Reiter nachvollziehbar. So muss sich jedes Symbol dem Wettbewerb unter vielen stellen. Die Besucher geben ihre Meinung ab. Im Wettbewerb siegt bekanntlich das Bessere, dem Lauten geht bald die Puste aus. 

Geschichten! Welche Geschichten?

Wir lernen: Es gibt immer mehr als nur eine Geschichte. Welche Geschichte sich durchsetzt, ist offen. Geschichten liefern Sinnüberschuss: Das ist der Möglichkeitsraum, den wir mit unserer Geschichte außerhalb der Geschichte mit unserer Erzählung der Geschichte erzeugen. Das was wir mit der Geschichte eingrenzen, erzeugt also immer auch alles Nichteingegrenzte, andere Geschichten. Das Offene. Wir sind Teil dieser Form, als Urheber können wir beeinflussen, wie sich unsere Geschichten weiterentwickeln!

AHA ist eine Reise

Geschichten leben nicht von der Wörtlichkeit, sie entwickeln sich über Bilder und sprachliche „Umwege“, die Metaphern. Metapher stammt aus dem Griechischen μεταφορά, metaphorá, und heißt wörtlich „Übertragung“. Die Verbform μετα-φορέω, meta-phoréō, auch: μετα-φέρεω, meta-phérō bedeutet „übertragen, übersetzen, transportieren“. Auf Bussen und Zügen in Athen kann man häufig das Wort „metaphoroi“ lesen. Damit beschreibt das Verb metaphérein genau das, was der Bus tut: Menschen „anderswohin tragen“ – sofern wir bereit sind, das Wort „tragen“ metaphorisch zu verstehen.

Wenn wir etwas mit Bildern umschreiben, dann bringen wir etwas „im übertragenen Sinn“ zum Ausdruck. Wir tragen die Mitteilung in einen anderen Denkraum mit anderem Vokabular, mit anderer Symbolik. Dort erleben wir Störung und Verstörung, Verstärkung der Botschaft ebenso wie ihr Verblassen, Anreicherung, Korrektur … Neuanfang.

AHA ist eine Reise: Wir lassen uns mit unseren Geschichten zu Stationen im Möglichkeitsraum tragen, um die Geschichten dort dem Perspektivwechsel auszusetzen. Das Ergebnis ist offen.