ICH
Das Hirn des Menschen hat im Verlauf der Evolution gelernt, einen Systemzustand bereitzustellen, der dem Hirn-Träger ein Erste-Person-Singular-Erlebnis ermöglicht. Wir nennen diese Ich-Form unser Bewusstsein oder auch Selbstbewusstsein.
Als Ich erlebt der Mensch die Illusion, über sich selbst reflektieren zu können, strategisch zu denken, zu planen und probezuhandeln, sein Handeln rechtfertigen und sein Menschsein beeinflussen zu können. Er genießt den Glauben an seinen freien Willen und an die Souveränität seines Auftritts in dieser Welt.
Hirnforscher wissen, wo das passiert im Hirn, welches rund ein Viertel der Kalorien beansprucht, die wir verbrennen. Mit bildgebenden Verfahren können sie das Hirn kartieren und die Reaktionen auf Reize verorten. Die Neurowissenschaft ist jedoch weit davon entfernt, erklären zu können, wie es zu diesem Ich-Zustand kommt: Was macht unsere Psyche aus? Welche Biologie ist hier wirksam? Oder gibt es sie doch, diese immaterielle Seele, getrennt vom Leib, nicht biologisch, unsterblich, wie manche Menschen glauben?
Zumindest können wir beobachten, wenn etwas defekt zu sein scheint, weil es „da oben“ irgendwie falsch läuft, bei Demenzkranken etwa, deren Ich-Erleben uns nicht mehr zugänglich ist. Der Neurologe Oliver Sacks hat dazu geforscht und lesenswerte Fallstudien und Anekdoten publiziert.
AHA und das Ich
Wir AHA-Partner sind gespannt auf alle „ICH-ler“, die mitkommen wollen auf einer der AHA-Reisen. Wir wollen dabei auch Impulse aus dem Erste-Person-Plural-Erlebnis in der Gruppe für die eigenen Ich-Erzählungen schöpfen. Der Perspektivwechsel wird entlang der Reisen ein starkes Momentum sein. Als hilfreiche Vorbereitung soll mit den folgenden Überlegungen versucht werden, diesen Perspektivwechsel zu erklären und darauf neugierig zu machen.
Unser Betriebssystem
Über unsere Sinnesorgane empfangen wir Impulse aus der Umwelt, in der wir leben. Funktional, technisch und biologisch können wir diese Sensorik gut verstehen und die Weiterleitung der Daten bis in die entsprechenden Zentren für das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen nachvollziehen. Man schätzt, daß dieses System rund zehn Millionen Bits pro Sekunde aufnehmen kann.
Unser Ich-Erleben, das Bewusste, „schafft“ jedoch nur vierzig Bits pro Sekunde, sagen Hirnexperten! Uns wird also nur ein winziger Bruchteil von etwa 0,0004 Prozent der Inputdaten für unseren Auftritt als „souveräner“ Akteur zur Verfügung gestellt. Und das nicht als Rohmaterial, sondern bearbeitet, vorverdaut!
Rätselhaftes
Was passiert mit den anderen 99,9996 Prozent? Darüber wissen wir noch wenig. Wirksam in irgendeiner Weise wird dieser „Rest“ wohl sein. Und was ist mit den Exabytes, vielleicht Yottabytes oder mehr an Daten, die sich während unseres Lebens im Hirn einschleichen? Sind die noch da? Wie funktioniert das menschliche Gedächtnis? Wir wissen nur, wie es nicht funktioniert, nämlich wie ein digitaler Datenspeicher, den wir nach Belieben auslesen, formatieren oder neu beschreiben können.
Ausnahmen bestätigen die Regel: Stephen Wiltshire bekam als Dreijähriger die Diagnose Autismus. Inzwischen ist er weltberühmt für seine detailtreuen Zeichnungen von Stadtpanoramen. Das Foto von Paolo Woods zeigt ihn bei der Arbeit an einer Ansicht von Mexiko-City auf einer vier Meter langen Wand.
(Quelle: https://www.nationalgeographic.de/
fotograf/paolo-woods).
HIER sehen wir ihn im Video.

Fotografisches Gedächtnis
Stephen Wiltshire genügt ein kurzer Anblick des Originals, der Blick aus einem Hochhausfenster, ein Hubschrauberflug … und die Datenbasis ist in seinem Gedächtnis gespeichert. Wie optische Daten über den Kamerasensor in ein Speichermedium gelangen und auf die Bearbeitung warten, so sind Straßen, Wahrzeichen und andere Details für Wiltshire abrufbar für die Umsetzung in eine zweidimensionale Zeichnung.
Gabe oder Fehler?
Als Autist hat Stephen Wiltshire kaum bessere Augen als wir „Normalos“, er empfängt nicht mehr Impulse, und diese Impulse gelangen bei ihm wie bei jedem anderen Zeitgenossen in die entsprechenden Hirnbereiche. Aber sie werden dann offenbar anders verarbeitet und an ein Gedächtnis übergeben, das Wiltshire beinahe wie den Inhalt einer Festplatte auslesen kann!
Warum kann er das? Und warum können die meisten anderen Menschen das nicht?
Stephen Wiltshires Fähigkeit ist keine „Gabe“, die wir uns alle wünschen sollten. Im Gegenteil: Ihm fehlt etwas, nämlich eine Zensor-Funktion, die die Datenverarbeitung des Menschen vor Überlastung schützt. Diese intelligente Funktion ist technisch ausgedrückt eine Art Fuzzy Logic, nämlich die Fähigkeit, aus unscharfer Datenlage Modellierungen abzuleiten. Damit können wir dann schnell entscheiden und handeln. Das macht unser Hirn so effizient und konnte evolutionsbiologisch überleben.
Arbeit im Dunkeln
Mit den Einspeisungen über das sensorische System und aus dem tiefen „Messie-Keller“ mit bestehenden Inhalten wird unserem Ich eine Melange an Angeboten für unser bewusstes Erleben, Denken und Entscheiden zugespielt. Zwischen dem Input und der Bewusstseinsbühne haben wir jedoch eine Erklärungslücke. In der Sprache der Mathematik: Unser Hirn betreibt einen Diskret-glatt-Wandler, der diskrete Signale in ein glattes Bild übersetzt. Aber der Übersetzungs-Code wird uns nicht mitgeliefert. Deshalb können wir nicht vom Bild zurück auf das Motiv schließen. Zwischen Motiv und Bild passiert allerlei an Komprimierung und Sortierung, es wird gefiltert, gesiebt … und zensiert. Letzteres funktioniert nicht bei Stephen Wiltshire.
Der Wandler arbeitet als Blackbox, dessen Rezepte wir nicht kennen, nur das Ergebnis der Arbeit ist uns zugänglich: Es ist unser Ich-Erlebnis aus vorverdaut Gebrauchsfertigem. Wir sind Wiederkäuer und merken es nicht. Das „Es“ und das „Über-ich“ dominieren nach Freud unser Denken und Tun, wir sind Protagonisten wie auch Zuschauer in einer Inszenierung, deren Regie uns verborgen bleibt.
Die Psycho-Box ist operational geschlossen: Hier gibt es nichts zum Justieren, Reparieren oder Austauschen. Auf Umwegen versuchen wir, die Regie zu beeinflussen: Psychopharmaka, LSD, Hypnose, Meditation sind nur einige Stichworte, „Dream Hacking“ ist ein frisches Forschungsgebiet. Neben evidenten wie fragwürdigen Ansätzen tut sich hier auch eine schräge Welt der Heiler und Quacksalber auf.
Perspektivwechsel
Wenn es tatsächlich so ist, daß wir als Ich nur Bruchteile der Wirklichkeit bewusst erleben können, wenn das meiste „an uns vorbeizieht“ und irgendwo landet, wenn wir uns mit bearbeiteten Bildern, also mit Abbildern begnügen und mit Zufälligkeiten der Blackbox-Regie leben müssen … wie können wir uns dann als Souverän fühlen? Als Denker, Regisseur und Lenker? Ist das nicht reichlich vermessen? Sind wir nicht eher eine „kleine Leuchte“, die sich demütig in Bescheidenheit üben müsste?
Demut kann nicht schaden, aber AHA schlägt eine andere Perspektive vor …
Trivial oder nichttrivial?
Mit den erwähnten „glatten“ Bildern leistet unsere Blackbox eine wertvolle Arbeit: Sie liefert unserem Bewussten – wir reden nicht über das Unbewusste! – erste Unterscheidungen und damit Bewertungen als bereits getroffen, die Box trivialisiert! „Als trivial (lateinisch trivialis ‚gewöhnlich‘) gilt ein Umstand, der als naheliegend, für jedermann leicht ersichtlich oder erfassbar angesehen wird.“ so sagt uns Wikipedia.
Die Informationstechnologie kennt die triviale Maschine: Ein endlicher Automat liefert nach der Eingabe über verlässliche Kausalgesetze eine bestimmte Ausgabe.
Eine nichttriviale Maschine ist eine Maschine „mit Launen“. Sie mag zwar nach Regeln operieren, aber diese Regeln sind uns nicht zugänglich. Zwischen den Variablen des Systems bestehen Verknüpfungen mit gegenseitiger Beeinflussung, die so komplex sein können, daß wir keine Vorhersagen über Zustände der Maschine leisten können. Kleine Änderungen an Eingabe-Parametern führen zu unüberschaubaren Folgen.
Übrigens: Die Fahrkartenautomaten der BAHN sind trivial, auch wenn sie uns bisweilen als launisch begegnen. Und noch eine Randbemerkung: Das Unbehagen des Menschen gegenüber allem, was unter dem Titel Künstliche Intelligenz (KI) auftritt, könnte damit zu tun haben, daß wir launisch-unberechenbares Verhalten weiterhin als exklusiv menschliches Privileg beanspruchen möchten, Maschinen wollen wir das nicht gönnen.
In der trivialen Kapsel
Die Blackbox in unserem Oberstübchen ist ein nichttriviales System: Es liefert dem Ich verdaulich Bewertetes, Trivialisiertes und Simplifiziertes, bleibt aber selbst im nichttrivialen Dunkel. Unser Ich wiederum trivialisiert munter weiter, etwas anderes kann es nicht. Phänomene, die uns nicht verlässlich und erfassbar erscheinen, lassen wir verbieten, blenden wir aus oder wir nehmen ihnen die Komplexität: Unsere Trivialisierungs-Werkzeuge sind Konzepte und Theorien, Gesetze und Modellierungen, Systeme und Kategorisierungen. Wir nutzen Heuristiken und Schon-mal-gemacht-Konserven, Landkarten und andere Orientierungsmarken, die uns die alltägliche Navigation ermöglichen. Kreative Verschwörungstheorien sind besonders beliebt, mit der Idee göttlicher Fügung haben sie eine Jahrhunderte alte Tradition … und auch das Digitalisieren ist eine Form der Trivialisierung.
Wir fliegen in unserer trivialen Kapsel im nichttrivialen All. Wir reduzieren, verdichten und vereinfachen so lange, bis wir uns auf vermeintlich sicherem Terrain fühlen, um zu …
… unterscheiden!
Unser Leben ist ständiges Unterscheiden und Entscheiden. Vermutlich erledigen wir zig-tausend Unterscheidungsfälle täglich, hinzu kommt das Unterscheidungsgeschehen unseres Organismus, das uns nicht auf die Bewusstseinsbühne projiziert wird. Wir können nicht nicht unterscheiden. Selbst wer vor einer weißen Wand hockend meditiert, hat sich dafür entschieden und gegen etwas anderes, Spiegelei braten zum Beispiel. Dazu hat er Unterscheidungskriterien gewählt und Alternativen bewertet, einen Bereich markiert und eingegrenzt, in dem Entscheidungen möglich sind.
Gleichzeitig und automatisch, nicht zu verhindern, ist etwas Nichtmarkiertes davon unterschieden. Dieses Nichtmarkierte ist weder das Nichts noch die Negation des Markierten, nicht dessen Gegenteil. Es ist gegenwärtig zwar mitgedacht, aber nicht bewertet, es ist das Nichttriviale!
Grenzen überschreiten?
Wir fassen zusammen: Unser Ich-Erlebnis ist das Triviale, das Eingegrenzte. Dann gibt es etwas davon Unterschiedenes, also Ausgegrenztes mit dem Arbeitstitel „Nichttrivial“. Und es gibt die Grenze dazwischen. Diese Komponenten als „Dreieinigkeit“ zu thematisieren, geht auf George Spencer Brown (GSB) (*1923, †2016) zurück, er nannte das „form“. Er fordert uns zum Unterscheiden auf: „Make a distinction!“. Seine Idee ist wiederum ein Modellierungsversuch, also trivial markiert, und es stellt sich die Frage: Kommen wir überhaupt heraus aus dem Trivialen? Können wir ins Nichttriviale springen?
Die AHA-Antwort ist ein klares JAIN! Wir können nicht aus der form heraus, aber wir können jederzeit Grenzen überschreiten und innerhalb der form andere Unterscheidungen treffen. Solche Unterscheidungen nach veränderten Kriterien gehorchen wiederum trivialen Prinzipien (GSB nannte es die „laws of form“), sie heben jedoch alle vorher gemachten Unterscheidungen auf.

Mein Schatten und Ich
Die form-Idee Spencer Browns ist wertvoll, aber abstrakt und schwer zugänglich. Mit AHA wollen wir auf dem Teppich bleiben.
Dazu hilft uns das Foto in der schrägen Sonne als Metapher: Wir sehen unseren Schatten. Wir bewegen uns, der Schatten wandert mit. Können wir aus dem Schatten springen?
Wir können uns umdrehen, zum Licht, dann sehen wir den Schatten nicht. Oder wir knipsen die Sonnen aus, dann sehen wir gar nichts mehr. Das hilft uns aber nicht heraus aus der Symbiose des Ich und seines Schattens, aus der form.
Es soll schlaue Missionare geben, die in ihren Coachings Rezepte für das „out-of-the-box-Denken“ predigen. Sie versprechen, daß wir uns von unserem Schatten verabschieden, unsere Kapsel verlassen und so zur Souveränität gelangen können. Diese Ansätze ignorieren nicht nur Erkenntnisse der Hirnforschung, sie widersprechen sich auch selbst: Wer „tools“ verkauft oder nutzt, ist und bleibt im Trivialen, also in der Box. Jedes Heraus führt wieder hinein: in eine neue Box. Die Matroschka steckt in einer weiteren Matroschka … das Unterscheiden ist ein geschachtelter Prozess, fraktal, ad infinitum.
Weiterfliegen mit AHA
Wir fliegen also in unserer schon erwähnten trivialen Kapsel. Wir nehmen den Schatten mit auf unserer Reise im nichttrivialen All, auf einer AHA-Reise. Wir verlassen die Box nicht, wir nehmen sie mit. Wir sind die Box und machen halt an verschiedenen Stationen.
Und siehe da: Der Schatten verändert sich: Weil die Sonne im anderen Winkel scheint, weil das Terrain, auf das der Schatten fällt, von anderer Struktur oder anderer Dimension ist, weil sich das Licht zu einer anderen Farbwahrnehmung bricht …
Und weil sich die Schatten anderer dazugesellen, die mit uns in der gleichen Sonne stehen. Dann haben wir Erste-Person-Plural-Erlebnisse für die eigenen Ich-Erzählungen, dann kommunizieren wir, sind auf der AHA-Reise und erfahren den Nutzen des Perspektivwechsels.

Perspektivwechsel ist Kontextwechsel
Wir haben unseren Schatten in einen anderen Kontext transportiert. Dies ist in der form-Sprache Spencer Browns die vierte Dimension neben dem Markierten (trivial), dem Nichtmarkierten (nichttrivial) und der Grenze dazwischen. Welche Bedeutung hat dieser Kontext?
Forscher haben bei bestimmten Indigenen im Amazonas-Regenwald die Beobachtung gemacht, daß sie räumliche Entfernungen und Größen nur eingeschränkt bewerten können: Sie sind es gewohnt, ihre Umgebung bis zu einer Distanz von höchstens fünfzig Metern zu erfassen, jenseits dieser Schwelle beginnt das dichte Grün, das alles weiter Entfernte verschluckt. Ihre Augen müssen nicht bis unendlich akkommodieren. Versetzt man diese Menschen in eine Umgebung, die weniger bewaldet ist und weitere Blicke ermöglicht, dann versagt ihre Fähigkeit, Dimensionen in größerer Entfernung realistisch einzuschätzen: Ein großes Tier etwa, das einen halben Kilometer weit entfernt grast, nehmen sie als ähnlich groß wahr, wie den kleinen Papageien, dessen Anblick sie auf einem fünfzig Meter nahen Baum gewohnt sind. Diese Menschen sind nicht dumm. Aber es gibt in ihrer gewohnten Umgebung keine existentielle Notwendigkeit, kilometerweit sehen zu können.
Im veränderten Kontext mit den neuen Sichtverhältnissen jedoch kann Lernen stattfinden: plastisch-physisch über die Akkommodationsfähigkeit der Augen und kognitiv im Interpretieren der Größenverhältnisse.
Wir wählen den Kontext
Als Box können wir die Box nicht verlassen, nicht raus aus dem Schatten. Out of the box ist damit ähnlicher Bullshit wie HIER bereits für V.U.C.A. festgestellt.
Aber wir können zulassen – oder zu verhindern versuchen -, daß die Box auf die Reise geht, raus aus dem Regenwald mit kurzer Sichtweite in eine offenere Umgebung. Wir nehmen unsere Geschichten (Schatten) mit und setzen sie veränderten Umgebungen des Nichttrivialen aus. Das ist das AHA-Verständnis von Perspektivwechsel als Kontextwechsel. Dessen Ergebnis ist nichttrivial und unvorhersehbar, kontingent. Aber wir dürfen beruhigt sein: Es offenbart sich uns wie gewohnt trivialisiert und gebrauchsfertig. Das können wir daran beobachten, wie sich unsere Geschichten verändern. Mit der Veränderung beginnt die Geschichte einen neuen Pfad. GSB nennt das den re-entry.
Wer sich für Spencer Browns „laws of form“ interessiert, möge bei Felix Lau in: „Die Form der Paradoxie“ weiterlesen. Lau zitiert auch Niklas Luhmann, der nach seiner Beschäftigung mit der form für sich „die Umstellung darin [sieht], daß nicht mehr von Objekten die Rede ist, sondern von Unterscheidungen.“.
AHA sieht für den Erfolg der Reise zu neuen Perspektiven eine Voraussetzung: die Bereitschaft abzureisen und sich auf das einzulassen, was passiert. Auf dem veränderten Pfad passiert etwas, soviel ist sicher. Wir finden. Was wir damit machen, hängt ab von unserer Angebotselastizität.