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Ansichtssachen: Interkultureller Perspektivwechsel

Wie befreie ich mich, wenn ich mich in einen Gedanken festgebissen habe oder so in einem Projekt feststecke, dass ich keinen Ausweg mehr finde? Aufgeben ist keine Option, so weitermachen wie bisher auch nicht. Da hilft es, den Standpunkt zu ändern, die Perspektive zu wechseln. Das kann geradezu ungeahnte Kräfte mobilisieren und freisetzen.

Es gibt das Sprichwort „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“. Mit einem Wechsel der Perspektive ändert sich der Blick auf die Aufgabenstellung und Probleme.

Wenn es heißt, dass der neue Chef im Betrieb schon nach kurzer Zeit alles auf den Kopf gestellt hat, liegt das vielleicht auch daran, dass er die gewohnten Prozesse verändern wollte, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Verständlich, dass er damit in erster Linie auf Unverständnis stößt. „Das haben wir doch schon immer so gemacht, und jetzt kommt der daher….“. Ja, da ist jetzt ein Neuer gekommen, der eine andere Sichtweise mitgebracht hat und diese umsetzt. Das wird schon werden – meistens. Positive Beispiele dafür finden sich in vielen Unternehmen.

Eine weitere Art des Perspektivwechsels ist es, Menschen zuzuhören, die aus einem anderen Kulturkreis kommen und uns erzählen, was sie an uns beobachten. Diese Menschen kommen mit ihrer eigenen tradierten Vorstellungswelt zu uns und betrachten uns aufmerksam – unser Sozialverhalten, unsere Politik, unser Schulwesen, unser Gesundheitswesen, unsere Wirtschaftsunternehmen, unsere Familien, unser Vereinsleben….

Allein das ist schon ein guter Grund, Menschen anderer Nationen viel mehr Anteil an unserem täglichen Leben zu geben und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Sie können uns den Spiegel vorhalten und dort, wo es erforderlich ist, ein Stück weit erden. Denn sie haben häufig eine völlig andere Wahrnehmung, die von der unsrigen durchaus stark abweichen kann. Wie schön, dass es das gibt!

Im Jahr 2015 kam der syrische Hochschullehrer Samer Tannous im Alter von 45 Jahren mit seiner Familie nach Rotenburg (Wümme) und freundete sich mit dem zwei Jahre jüngeren Coach, Dozenten und Autor Gerd Hachmöller an. Irgendwann kamen die beiden auf die Idee, die Notizen, die sich Tannous über seine neue Heimat gemacht hatte, zu veröffentlichen. Von der Lokalausgabe des Weser-Kurier ging es über eine regelmäßige Kolumne bei Spiegel+ bis hin zu zwei Büchern*, die es bereits auf die SPIEGEL Bestseller-Liste geschafft haben.

Samer Tannous (l), Gerd Hachmöller                        Foto: Hachmöller

Tannous und Hachmöller lassen darin kaum einen Bereich des täglichen Lebens außen vor – ausgenommen Politik und Religion. Es gibt ja doch genügend andere Gebiete, die aus Sicht eines christlich geprägten Arabers Stoff für ebenso interessante wie teilweise auch amüsante Geschichten bieten.

Allein darüber zu lesen, auf welch unterschiedliche Art Europäer und Araber kommunizieren, ruft dazu auf, mehr Verständnis für sein Gegenüber zu entwickeln.

Zitat**: Araber und Deutsche kommunizieren völlig unterschiedlich. Die deutsche Kommunikation ist meist direkt, wohingegen die arabische oft indirekt und blumig ist. Deutsche kommunizieren eher auf der Sachebene, für uns Araber dagegen steht die soziale und emotionale Interaktion im Mittelpunkt, also die Beziehungsebene. […] Der Deutsche fragt zum Beispiel „Kommst du morgen?“ und der Araber antwortet „Ja!“, obwohl er eigentlich verhindert ist. Am nächsten Tag wundert sich der Deutsche, dass der Araber nicht erscheint. Dabei war das „Ja“ vor allem Höflichkeit.

Die Autoren betonen, dass es sich in den Texten um individuelle, rein subjektive Betrachtungen handelt, die nicht unbedingt repräsentativ für Araber, speziell Syrer sind. Dennoch wird deutlich, wie unterschiedlich die Denkweisen, Ansichten und Einstellungen sind. Hier treffen zwei Welten aufeinander. Orient trifft Okzident – Abendland begegnet Morgenland. Hier stehen sich zwei Perspektiven gegenüber. Hier fliegen die Gedanken durch die runden Köpfe und am Ende kommen Bilder heraus, die kaum besser geeignet sein könnten, tiefes Verständnis füreinander zu entwickeln.

In einem Text, der im Januar 2020 im Spiegel veröffentlicht wurde, schreibt Samer Tannous: In unseren Geschichten habe ich in den Spiegel geblickt und viele Unterschiede und Gemeinsamkeiten meiner arabischen Prägung zur deutschen Kultur erkannt. [….] Gleichzeitig haben wir mit den Texten vielleicht auch den Deutschen den Spiegel vorgehalten, die darin Besonderheiten ihrer Gesellschaft erkennen konnten. Der algerische Autor Kamel Daoud sagt: »Kulturelle Unterschiede zu leugnen ist keine Lösung. Sie bewusst ins Auge zu fassen ist der Beginn einer Lösung.« Vielleicht haben wir in diesem Sinne auch etwas zur Integrationsdebatte beigetragen.

Besser und perfekter als in den Texten von Samer Tannous und Gerd Hachmöller mit zahlreichen Schilderungen alltäglicher Situationen lässt sich das Prinzip des interkulturellen Perspektivwechsels kaum beschreiben. Und der Schritt zum Perspektivwechsel in eigener Sache ist nach der Lektüre nur noch ein sehr sehr kleiner.

*Kommt ein Syrer nach Rotenburg (Wümme) & Lebt ein Syrer in Rotenburg (Wümme)

**Zitat aus dem Buch „Kommt ein Syrer nach Rotenburg (Wümme)“ von Samer Tannous und Gerd Hachmöller, Penguin Verlag